Hansi

eine Kurzgeschichte von

Sebastian Domke

© 2020

Kalle reihte sich in der Schlange zur Tafel ein und blickte zum Himmel. Regen benetzte sein Gesicht, durchnässte die Jacke und klatschte auf den Asphalt. Doch heute störte ihn das nicht. Er trat von einem Bein aufs andere und knetete die Hände.

Jemand tippte ihm auf den Arm, Kalle drehte sich um. Es war Christian.

»Hey Kalle, wie geht’s?«

Kalle grinste.»Du glaubst nicht, was mir passiert ist. Gestern, als ich den Müll rausbrachte, traf ich auf einen Wellensittich!«

»Oh, bei der Kälte würde er draußen nicht überleben, stimmt’s?«

Kalle nickte.»Ja, deswegen habe ich ihn mit in die Wohnung genommen. Er war ganz zutraulich und hat sich auf meine Schulter gesetzt.« Er lachte. »Ich musste ihn gar nicht erst überreden.«

Christian grinste und fragte ihn, ob er eine Ahnung hätte, welchem Nachbarn der Vogel gehörte.

»Ich weiß es nicht. Für die Besitzer muss es schlimm sein, und für den Kleinen sicher auch. Tiere sind wie Freunde, man vermisst sie, wenn sie nicht mehr da sind. Ich werde Zettel aufhängen, der Besitzer kann sich dann melden.« Kalle wischte sich mit dem Ärmel die Regentropfen aus dem Gesicht. »Wenn niemand anruft, bleibt er bei mir. So lange nenne ich ihn Hansi.«

»Sehr großzügig von dir. Und das, obwohl es nur ein Tier ist.«

Kalle runzelte die Stirn.»Ich werde mich gut um ihn kümmern«, sagte er.

Christian fragte ihn, ob er sich mit Wellensittichen auskennen würde.

Als Kind hatte er schon mal so einen Piepmatz besessen, und so verriet Kalle ihm, dass die Sittichhennen sich vom Sittichhahn durch unterschiedliche Farben der Netzwachshaut unterschieden, und erzählte, dass er einen Käfig besorgen wolle.

»Was für Brot möchten Sie?«, fragte die Mitarbeiterin an der Brottheke.

Oh, er war schon an der Reihe. Das ging ja heute schnell.Kalle hatte beinahe vergessen, warum er hier war.

»Ich habe da eine Frage«, sagte er. »Haben Sie Körner?«

Die Frau deutete auf das Körnerbrot.»Sie können das hier haben.«

»Mir ist ein Wellensittich zugeflogen, um den ich mich kümmere. Für ihn bräuchte ich Körner. «

»Tut mir leid, lose Körner haben wir leider nicht.«

»Schade. Aber vielleicht können Sie mir doch das Körnerbrot mitgeben, die Körner entferne ich dann mit einem Messer.«

Eigentlich mochte Kalle dieses Brot nicht. Mit dem heutigen Tag würde sich das ändern.

*

Als Kalle mit Taschen voller Lebensmittel seine Einzimmerwohnung betrat, war es nicht still wie sonst, wenn er nach Hause kam. Hansi segelte um ihn herum und ließ sich auf seiner Schulter nieder.

Kalle ging in die Küche, holte das Brot aus der Tüte und schabte die Körner auf eine kleine Untertasse. Sich selbst schmierte er zwei Scheiben mit Käse, drappierte sie mit Gurkenscheiben auf einem Teller, dann schlich er ins Wohnzimmer und deckte für seinen Gast und sich ein.

Kaum hatte er auf dem Sofa platzgenommen, landete Hansi auf dem Tisch und machte sich über die Körner her. Der Anblick wärmte Kalles Herz dermaßen, dass er fast vergaß, selbst etwas zu essen.

Kalles Miene verdüsterte sich. Ein Satz, den Christian von sich gegeben hatte, ließ ihn nicht mehr los: »Und das, obwohl es nur ein Tier ist.« Etwas ärgerte Kalle daran. Christian hätte sehen sollen, wie Hansi draußen bei den Containern panisch mit den Flügeln geflattert hat, wie verletzlich und verloren er gewesen war.

Kalle biss in sein Brot und schaute zu, wie Hansi die letzten Körner vom Teller pickte, sich streckte und putzte und sein Gefieder schüttelte.

Ein Mensch, der nicht mehr nach Hause finden würde, würde ebenso Zuwendung und ein Heim brauchen wie dieser kleine Kerl. Hatte nicht jedes Geschöpf das gleiche Recht auf Würde?

Ende