Drache des Meeres

eine Kurzgeschichte von

Uwe Barth

© 2022

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u.barth@blackglasses.de

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Die Ankunft

Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet, weit geöffnet, und die heftigen Winde und Böen taten ihr Bestes die Fluten von oben mit dem noch kälteren Nass des nahen Meeres zu bereichern. Alle waren in dichte, Wetter-feste Kleidung gehüllt, während sie endlich die letzte Steigung hinter sich brachten und C Manor endlich in Sicht kam.

In der Nähe des größten Gebäudes der ganzen Gegend ließ der Wind dann erheblich nach, und nachdem sie das Tor durchschritten hatten war von dem Sturm kaum mehr etwas zu spüren oder zu hören. Die größte Gestalt unter ihnen trat vor und bewegte den massiven Türklopfer vor und zurück, und es klang so, als würde ein riesiger Schmiedehammer auf sein Gegenstück treffen. Das Portal öffnete sich und ließ sie eintreten. Mehrere Reihen von Kerzen an den Wänden entlang spendeten das Licht in diesem Vorraum, in dem sie sich ihrer schweren Überkleider entledigten. Das flackernde Licht des Feuers aus dem Kamin, der groß genug war, das sicherlich sechs von ihnen stehend in ihm Platz gefunden hätten, wies ihnen den Weg in die große Halle, in der die Feier stattfinden würde.

Die Augen des Verrats

Regen prasselte auf Sie in harten Tropfen herunter und über der Klippe zuckten die Blitze in rascher Reihenfolge. Ihr Ziel lag noch einiges an Weg vor ihr, daher bewegte sie sich so schnell es ihr nur möglich war weiter, gewiss, das ihre Flucht bereits bemerkt worden war und ihre Verfolger nicht weit zurück lagen.

Es war ihre einzige Chance auf Freiheit, die Freiheit, selbst über ihr Schicksal bestimmen zu können. Wenigstens noch ein einziges Mal, denn vermutlich war dies der sichere Weg in den Tod. Doch hatte man ihr keinen anderen Ausweg gelassen, und so setzte sie ihre ganze Hoffnung darauf, das es dort oben noch etwas anderes gab als nur Wind und Sturm, die einen von der Klippe herunter zu reißen und auf die Felsen in der Brandung zu schmettern trachteten.

Doch selbst der mögliche Tod schien ihr allemal besser, als mit diesem Ungeheuer vermählt zu werden. Ein Kriegsherr, der den Beinamen ‚Der Schlächter‘ trug und der ihrem Vater ihre Hand abgepresst hatte. Sie verstand ihren Vater gut, trug er doch als Lehnsherr die Verantwortung für die Menschen und er hatte des Kriegsherrn Wort erhalten, das niemand weiter zu Schaden käme. So war sie bereit gewesen, sich in ihr Schicksal zu ergeben. Doch dann war sie dem Schlächter vorgestellt worden und sie sah in seine Augen. Und in diesen Augen brannte der bereits geplante Verrat wie ein loderndes Feuer, heiß und hell und unübersehbar. Nachdem sie offiziell seine Frau wäre würde ihr Leben rasch ein Ende finden. Und damit das Lehen an ihn fallen.

Da waren ihr mit der Verzweiflung nur noch die Flucht und die Hoffnung alter Mythen und Legenden geblieben.

Der Pakt

Als sie die Klippe erreichte war sie der Erschöpfung nahe. Der Wind zerrte an ihr und Blitze schlugen wieder und wieder in ihrer Nähe ein und das Tosen und Brüllen setzten ihr zu. Doch es war keine Zeit sich auszuruhen. Mit einem Blick den zurückgelegten Weg hinunter hatte sie die schaukelnden Lichter der Laternen ihrer Verfolger gesehen. Nur Minuten blieben ihr noch, bevor das Scheusal heran sein würde.

Also tat sie wie es in den Legenden und alten Büchern geheißen wurde. Sie trat so dicht an den Rand der Klippe, wie es ihr nur möglich war, hob den Blick und beide Arme der Dunkelheit entgegen, senkte erst das eine Knie, dann auch das andere, wie ein Bittsteller vor dem Kreuze.

Von ihren Lippen lösten sich die Worte der alten Beschwörungsformeln. Dreimal wiederholte sie diese, ohne das sich irgendetwas zu verändern schien. Als sich nichts ereignete erfasste Sie Wut und Zorn, sie sprang auf und sie riss das Schwert von ihrer Seite, fasste es, wie ihr Vater es sie gelehrt hatte, mit beiden Händen, und stieß die Spitze hinauf in den Regen und die Schwärze vor ihr.

„Ich bin Fedora! Hier stehe ich und gebe dir mit meinen Namen Macht über mich!“, schrie sie. „Komm zu mir, komm herbei und gewähre es mir, mein Schicksal zu ändern! Mein Leben sei der Preis für deine Hilfe!“

In ihrem Rücken erklang ein lautes und raues Lachen das sie zittern ließ.

„Ich, Fedora, fordere dich auf, den Pakt mit mir zu schließen! Jetzt!“

Und mit den letzten Worten verdichteten sich die Millionen Regentropfen vor ihr zu einem Bild. Und mit jedem Blitzschlag erkannte sie mehr: eine riesige Gestalt, wie aus fließendem Glas gemacht. Seine Flügel holten weit aus und der ungeheuerlich starke Wind suchte sie von der Klippe zurückzudrängen, so das sie sich mit aller Kraft entgegenstemmen musste um nicht den Halt zu verlieren und fortgewirbelt zu werden.

„Mein Wort für das deinige! Meinen Leib für deinen Leib! Mein Leben für dein Leben! Komm und überschreite die Grenze! Finde Halt in mir und ich trage dich in mir, wann immer es dich danach verlangt und wohin du willst!“

Und damit umschlang das Wasser sie und sie war in ihm — und dann er in ihr.

„So sei es.“ Die Stimme erklang tief in ihr, und sie war sich sicher, das niemand sonst sie hörte.

Der Kampf

Hinter ihr brüllte der Schlächter.

„Närrisches Weibstück, was glaubst du denn, was passieren wird? Sollen dich die Regentropfen vor mir bewahren? Wolltest du dich von der Klippe stürzen? Nichts und niemand kann dich nun noch vor meiner Klinge schützen! Den Kopf werde ich dir nehmen und ihn deinem Vater vor die Füße schleudern — und das wird das Letzte sein, was seine Augen sehen werden.“

Langsam wandte sich Fedora um, bis sie diesem Teufel in Menschengestalt gegenüberstand. Ihre eigene Waffe, immer noch mit beiden Händen geführt, schwang herunter und krachte Funken-sprühend gegen das Schwert ihres Peinigers. Und wieder und wieder holte sie aus und ließ die Schläge schneller und härter auf den Kriegsherrn einprasseln, als es ihr eigentlich möglich sein sollte. Und mit jedem Klirren von Stahl auf Stahl gewann sie an Boden und drängte ihren Gegner zurück. Nach jedem Schlag zuckte ein Blitz gleißend vom Himmel herab und senkte sich in ihr Schwert und umgab Fedora mit hellem Lichtschein, der, wie es die Zeugen später beschrieben, in sie einzusickern schien.

Dann, plötzlich, flog die Klinge des Schlächters in die Dunkelheit davon und keinen Atemzug später bohrte sich Fedoras Schwert durch seine Brust und trat hinten wieder aus seinem Körper aus. Gleißendes Licht ergoss sich von Fedora durch ihr Schwert in den Kriegsherrn, beleuchtete seine verzerrte Fratze und ließ den Körper, begleitet von den Schreien unmenschlichen Leidens, in Flammen aufgehen.

Die umstehenden Krieger hielten ihre Waffen vor sich, doch in jedem einzelnen Gesicht zeigte sich die nackte Angst.

„Ich bin Fedora! Ich habe den Pakt geschlossen! Ich trage den Drachen des Meeres und seine Macht in mir, auf das er das Land betrete und alle verfolge und vernichte, die sich uns entgegenstellen!“

Und der Drache des Meeres breitete seine Flügel aus und erhob sich über dem Land. Und sein Brüllen war so laut und trug so weit, das selbst der König in seinem Schloss in der Ferne es vernahm und erzitterte.

Eine Keine-Gute-Nacht-Geschichte

„... und seit jenen Ereignissen stand Fedora unter dem Schutz des Drachen und war daher unantastbar, und der Drache selbst hatte von da an Zugang zum Land und viele wollen ihn in stürmischen Nächten — in Nächten wie dieser heute — gesehen haben. Manche behaupten sogar, er käme noch immer aus den Tiefen der Ozeane herauf um über das Land zu streifen.“

Mit diesen Worten breitete meine Mutter die Arme aus.

„Ich bin froh und danke euch, das ihr alle unserer Tradition gefolgt seid, und den Jahrestag — oder vielmehr die Jahresnacht — hier verbringen wollt. Hier, auf Covenant Manor, das bis zu jener Nacht vor 200 Jahren einfach nur Cliff Manor geheißen wurde.“

Mutter schaute in die Gesichter der jungen Gäste, die, allesamt Mädchen im Alter von etwa 14 Jahren, mit großen Augen und offenen Mündern der Geschichte gelauscht hatten. Nun, ja, alle, bis auf zwei von ihnen.

Die eine Ausnahme war natürlich ich selbst; als Tochter des Hauses hatte ich diese Feier schon mehrfach miterlebt, quasi von der Seitenlinie. Doch heute, an meinem vierzehnten Geburtstag, war auch ich als Gast hier.

Meine Freundin Nettie stieß mich mit ihrem spitzen Ellenbogen in die Seite. Ihr ebenso spitzes Kinn, genaugenommen war eigentlich alles an Nettie spitz, deutete auf die zweite Ausnahme: Geraldine!

Seit unserer ersten Begegnung vor zwei Tagen gab sie sich unbeeindruckt und unbeteiligt, geradeso, als wäre sie lieber überall sonst wo auf der Welt, statt mit uns anderen zusammen. Ein paar der anderen Mädchen hatten anfangs auch Widerwillen erkennen lassen, was ich nicht ungewöhnlich fand, durften doch alle außer uns bereits die Winterferien genießen. Das, und die Abwesenheit von Jungs, reichten dazu vollkommen aus. Ihre Zickigkeiten schwanden jedoch rasch unter den Anstrengungen und Eindrücken wie auf einer Sturm-umtosten Klippe zu stehen!

Vielleicht lag es bei Geraldine einfach daran, das sie diesmal nicht den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses bildete, sondern ich. Was schlicht daran lag, das es eben um die Geschichte meiner Familie ging. Und sie auch noch just an diesem Tag meinen vierzehnten Geburtstag mit mir feiern konnten.

Und alle standen sie jetzt unter dem Bann der Geschichte meiner Vorfahrin. Alle, bis auf Geraldine, die nahe bei einem der Fenster zur Klippe saß. Ich lächelte.

„Aylin? — Aylin!“, zischte Nettie mir zu. „Aylin, was heckst du gerade aus?“

Zur Antwort grinste ich Nettie nur an. Mutter hatte nicht die ganze Legende vorgetragen. Ein sehr wichtiges Detail hatte sie — wie immer — ausgelassen. Ein Detail des Versprechens, das Fedora dem Drachen des Meeres gegeben hatte, und das bis heute fortwirkte. Und auch wenn Geraldine das sicher gerne abgetan hätte, so, wie sie es die ganze Zeit mit allem getan hatte, was die Legende, diese Feier und natürlich mich betraf, war es doch real.

Ich zögerte noch einen Augenblick, dann traf ich eine Entscheidung des Vertrauens.

„Nettie, du erinnerst dich an den Wortlaut des Paktes? Und du weißt, das es seither immer nur eine Erbin auf Covenant Manor gegeben hat? Nie wieder wurde ein Junge geboren!“ Nettie nickte mir zu. „Nun, der Pakt, er endete nicht so wie du glaubst...“

Netties Augen wurden schmal und drückten gleichermaßen Zweifel und Verwirrung aus.

„Fedoras Schwur, er endet so: ‚Finde Halt in mir und ich trage dich in mir, wann immer es dich danach verlangt und wohin du willst! Ich — und alle meine Töchter nach mir!‘“

Netties Augen wurden groß und ich nahm eine von ihren Händen in die meine, dann schaute ich hinüber zu Geraldine und dem Fenster hinter ihr. Dort, wo es eben noch ruhig gewesen war, schlug nun Wasser so heftig gegen das Fenster, das es schepperte. Geraldine zuckte zusammen, richtete ihren Blick neu aus. Alle anderen taten es ihr erschrocken nach. Wieder und wieder traf der Regen wie eine Wand auf das Glas. Doch nur Geraldine und Nettie konnten wirklich in die Nacht hinausblicken. Und während Nettie meine Hand fest und schmerzhaft drückte, begann Geraldine zu kreischen und zu zittern. Denn beide sahen sie den Kopf des Drachens der Geraldine anstarrte, dessen Körper sich gerade wieder neu aus Wasser formte, um gleich darauf ein weiteres Mal gegen das Hindernis anzuwüten, das alleine ihn von seinem Ziel trennte.

„Lady Aylin!“

Ich blickte in Netties freundliche braune Augen und musste über die von ihr gebrauchte Anrede lachen. Und mit einem letzten Krachen und Gleißen, das in den Augen weh tat, war es draußen wieder einfach nur stürmisch. Da fing ich den Blick meiner Mutter auf; auf ihren Lippen lag ein Lächeln und ihr Mund spitzte sich zu einem Kuss für mich zu.

Alles in allem war das doch ein echt guter Tag.

Ende

Die Namen und ihre Bedeutung

Fedora — Geschenk Gottes

Nettie — Anmut oder Liebreiz, Kurzform von Annette

Aylin — Mondlicht

Geraldine — Beherrscherin des Speers, die mit dem Speer waltende