Der Sternenjunge

von Sebastian Domke

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Natalie schloss die Haustür und steckte sich vor der Tür des 4-Parteienhauses eine Zigarette an. Tim und ihr Sohn Torsten stritten sich seit zwei Stunden. Sie konnte das nicht mehr hören.

Etwas fesselte ihre Aufmerksamkeit.

Draußen, nur wenige Meter entfernt in einer Einfahrt, mit der linken Hand einen Griff des Fahrradlenkers umklammert, stand der Junge, dessen Namen sie nicht kannte. Bei den Biersausen im Sommer, wenn sie in den Vorgärten saßen, wurden oft Witze über ihn erzählt. Manche sagten, er sei irre. Hatte er sie bemerkt? Die Rauchwolken in der kalten Nachtluft klärten sich, aber sie hatte das Gefühl, dass er sie wahrgenommen, ihren Blick zumindest gestreift hatte. Sicher wusste sie es nicht. Der Blick des Jungen, für den es keinen Namen gab, haftete am sternenklaren Himmel.

Ein Flugzeug sendete leuchtende Impulse aus und erinnerte an eine pulsierende Energiequelle. Je länger er das beobachtete, desto kraftvoller glänzten seine Augen.

Niemand wusste, wo der Junge herkam. Jeden Abend hielt er an der Einfahrt und beobachtete den Himmel. Einige sagten, er sei ein Psycho, man solle ihn nicht ansprechen. Aber Natalie war schon immer versucht, hinter die Fassade von Menschen zu schauen, und näherte sich mit zaghaften Schritten dem Jungen, den sie ab heute Sternenjunge nennen würde. Das Alter war schwer zu schätzen. Er konnte 17, aber ebenso 25 sein. Seine Haare waren ungestylt, umrandeten unstet sein Gesicht, aus dem zwei wache Augen wie Suchscheinwerfer das Himmelszelt sondierten.

»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Natalie. Was machst du hier?« Ihre Worte zerschnitten die Stille, in den Pupillen des Sternenjungen verschob sich etwas, und er betrachtete sie. Sein Ausdruck wirkte nicht mehr so klar, wie bei Betrachtung des Firmaments. Er wirkte etwas entrückt von dieser Welt.

»Ich schaue, ob das Sternbild noch da ist«, entgegnete er ruhig.

»Welches Sternbild?« Der rechte Arm des Jungen setzte sich kreisend in Bewegung, aber sie konnte keinen Punkt erkennen, auf den er sein Augenmerk konzentrierte.

»Dass des Löwenzahns.«

»Löwenzahns? Noch nie gehört.« Natalie dachte an die vielen bösen Worte, die über den Sternenjungen gesagt worden waren. Verrückt schien er wirklich zu sein.

»Schau nach oben!« Sie folgte seinem Rat. »Was ist da oben?«

»Finsternis und einige Sterne.«

»Genau. Wir sind von tiefster Dunkelheit umgeben, aber was wir am Himmel sehen können, sind die Sterne. So ist es in unserer Welt.« Natalie versuchte, seine Worte zu erfassen, aber es misslang ihr.

Sie sah die Puzzleteile deutlich vor sich, verstand jedoch noch nicht, wie sie sie zusammenfügen konnte.

»Was machst du tagsüber?«, fragte Natalie.

»Tagsüber sammle ich Löwenzähne, wie das Sternbild es mir gezeigt hat. Hast du die Drachenfeldwiese mal gesehen? Was ist dir besonders aufgefallen?«

»Jetzt, wo du es sagst. Da wachsen Löwenzähne.«

»Ja, aber die meiste Fläche nimmt das Gras ein, aber was uns auffällt, sind leuchtend gelbe Kämpfer. Genau wie beim Sternbild des Löwenzahns.«

Berstendes Porzellan durchbrach die Stille. So ein Streit wegen Wahlergebnissen.

»Weißt du, dass heute Wahlsonntag ist?«, fragte sie den Sternenjungen. »Das Ergebnis ist traurig, nicht wahr?«

Der Junge streckte seinen Arm aus und fischte einen Löwenzahn aus der Fahrradvase.

»Wenn auch nur ein Stern am Nachthimmel leuchtet, ein Löwenzahn auf der Wiese blüht oder eine Kerze in der Dunkelheit aufflammt, werden diese Leuchtbilder das sein, was wir sehen, egal wie dunkel es um uns herum sein mag.«

Er reichte ihr den Löwenzahn.

»Ein Tipp für dich. Arbeite undercover. Die Welt ist noch nicht reif für unsere Philosophie.« Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu, nahm flink auf dem Sattel Platz und verschwand nur wenige Augenblicke später in einer Nebenstraße.

Natalie fühlte das Gewicht des Löwenzahns in der Hand. Er war beinahe so leicht wie eine Feder, doch spürte sie die Schwere seiner Bedeutung. Es war, als habe sich eine unsichtbare Kraft in ihrem Herzen verankert. Eine Kraft, die sie tragen konnte. Vermochte sie ein Löwenzahn auf der Wiese zu sein? Einer, den man bemerkte? Als sie das Haus betrat, verstummten die Streithähne, taxierten sie eine Weile, dann fegten sie gemeinsam die Scherben des Tellers zusammen, der zu Bruch gegangen war.

Sie sagte nichts. Sie lächelte. Den Löwenzahn umklammerte sie fest. Am Liebsten würde sie ihn nie mehr loslassen. Auf der Türschwelle drehte sie sich noch mal um und hob ihren Blick zum Himmel. Einige Sterne befanden sich in einer Reihe, sie hatte einen leichten Knick, über ihnen formten andere das Bild einer Blüte. Das Sternenbild des Löwenzahns. Irrsinn oder Magie? Sie wusste es nicht, aber sie wusste, dass von dem Moment an die Welt zu einer anderen wurde, als die, die sie bisher gekannt hatte.